A. Anwendungsbereich des Arbeitsrechts
Das Arbeitsrecht regelt die abhängige Arbeit. Abhängige Arbeit bezeichnet die Arbeit, die in einem Arbeitsverhältnis geleistet wird. Sie wird durch Eingliederung in eine Arbeitsorganisation geleistet und ist daher fremdbestimmt und weisungsabhängig. Davon abzugrenzen ist die selbständige Arbeit, welche nicht vom Arbeitsrecht, sondern von den Bestimmungen des Auftrags (Art. 394 ff. OR) oder des Werkvertrags (Art. 363 ff.) erfasst wird.
Das Arbeitsrecht erfasst weiter nur die auf einem privatrechtlichen Vertrag beruhende abhängige Arbeit. Arbeitsleistungen, die gestützt auf einen anderen Rechtsgrund (z.B. Familienrecht, Gesellschaftsrecht, öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis) erbracht werden, fallen nicht in den Regelungsbereich des Arbeitsrechts.
B. Bereiche und Rechtsquellen zur Regelung abhängiger Arbeit
Die abhängige Arbeit untersteht zahlreichen Vorschriften. Diese dienen vornehmlich zum Schutz der Arbeitnehmenden. Wichtig sind folgende drei Bereiche:
1. Das Individualarbeitsrecht
Das Individualarbeitsrecht (Arbeitsprivatrecht) regelt die privatrechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmer. Dies erfolgt durch:
- Normen der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (BV): Insbesondere Art. 8 Abs. 3 BV (gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit von Mann und Frau) und Art. 110 Abs. 3 BV (Bundesfeiertag). Bedeutsam sind auch Art. 35 Abs. 3 (indirekte Drittwirkung der Grundrechte) und Art. 95 Abs. 3 BV (übermässige Vergütung börsenkotierter Aktiengesellschaften).
- Zahlreiche Gesetze, die u.a. öffentlich-rechtliche Verpflichtungen gegenüber dem Staat begründen, aber aufgrund der Rezeptionsklausel (OR 342 Abs. 2) privatrechtliche Wirkung haben, wie beispielsweise das Bundesgesetz über den Datenschutz (DSG) oder das Bundesgesetz über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih (AVG) inklusive dazugehöriger Verordnung.
- Der Gesamtarbeitsvertrag (Art. 356 ff. OR)
- Der Normalarbeitsvertrag (Art. 359 ff. OR), bei welchem es sich nicht um einen Vertrag, sondern einen Erlass des Bundes oder des Kantons mit dispositiven Normen für bestimmte Arbeitsverhältnisse (z.B. Landwirtschaft, Hausdienst, Pflegepersonal) handelt.
- Allgemeine Arbeitsbedingungen (AAB)
- Die Betriebsordnung
- Einzelarbeitsverträge oder Einzelarbeitsvereinbarungen
2. Das öffentliche Arbeitsrecht
Das öffentliche Arbeitsrecht dient dem Schutz des Arbeitnehmenden vor Gefahren am Arbeitsplatz und der Regelung des Verhaltens. Es entstand als Arbeitnehmerschutzrecht. Gegen die unbefriedigenden sozialen Verhältnisse der unselbständigen Lohnarbeiter wurden öffentlich-rechtliche zum Schutz der Arbeitnehmenden (Arbeitnehmerschutzrecht) geschaffen. Zudem wurden die Arbeitnehmenden durch eine Zwangsversicherung insbesondere gegen die Folgen von Krankheit und Unfall (Sozialversicherungsrecht) geschützt.
Wie vorgehend erwähnt, steht der Gegenseite aufgrund von Art. 342 Abs. 2 OR (sog. Rezeptionsklausel) ein privatrechtlicher Anspruch auf Erfüllung zu, wenn einer Vertragspartei durch öffentlich-rechtliche Vorschriften Verpflichtungen auferlegt werden. Rechtsquellen des öffentlichen Arbeitsrechts sind beispielsweise:
- Das Arbeitsgesetz (ArG) mit fünf Verordnungen (ARGV 1 – 5)
- Normen betreffend ausländische Arbeitskräfte (freier Personenverkehr mit der EU)
- Das Arbeitszeitgesetz (AZG)
- Das Gleichstellungsgesetz (GlG)
- Das Heimarbeitsgesetz (HArG) samt Verordnung (HArGV)
- Das Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG) samt Arbeitsvermittlungsverordnung (AVV)
- Das Unfallversicherungsgesetz (UVG) und das Krankenversicherungsgesetz (KVG)
- Das Gesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG)
3. Das kollektive Arbeitsrecht
Das kollektive Arbeitsrecht regelt die Rechtsbeziehungen zwischen den Sozialpartnern (Gewerkschaften und Arbeitgebende bzw. ihre Verbände) und die Rechtswirkungen der von diesen festgelegten Regelungen. Rechtsquellen des kollektiven Arbeitsrechts sind:
- Normen der Bundesverfassung wie Art. 28 BV (Koalitionsfreiheit, Arbeitskampffreiheit)
- Art. 356 – 358 OR (Gesamtarbeitsvertrag)
- Das Bundesgesetz über die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen (AVEG)
- Das Mitwirkungsgesetz (MitwG)
- Das Fabrikgesetz (FabG 30 f. sowie 33-35)
- Das Einigungsstellengesetz (EESG) mit Verordnung (EESV)
- Das Arbeitsgesetz (ArG 37 – 39; Betriebsordnung)
C. Supranationales Recht
Neben nationalen Normen wird das Arbeitsrecht auch durch supranationale Normen bestimmt. Die direkt anwendbaren supranationalen Normen gehen dem schweizerischen Recht vor.
1. Multilaterale Abkommen
Von Bedeutung im Arbeitsrecht sind insbesondere folgenden multilateralen Abkommen:
- International Labour Organization (ILO)-Übereinkommen.
- Europäische Sozialcharta (ESC)
UN-Menschenrechtspakt: UNO-Pakt I, UNO-Pakt II
2. Bilaterale Abkommen
Ferner hat die Schweiz im Bereich des Arbeitsrechts mit einer Reihe von Staaten bilaterale Abkommen getroffen. Auf eine Aufzählung wird an dieser Stelle verzichtet. Besondere Bedeutung erlangen die bilateralen Abkommen mit der EU, welche die EU-Freizügigkeit beinhalten und insbesondere für den freien Personenverkehr und das Beschaffungswesen bedeutsam sind.
D. Hierarchie der Rechtsquellen innerhalb des Individualarbeitsrechts
1. Widersprechende Vorschriften
Das Individualarbeitsrecht ist – wie aufgezeigt – durch eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsnormen geregelt. Widersprechen sich diese Normen, ist deren Verhältnis zueinander von Bedeutung. Das Obligationenrecht unterscheidet diesbezüglich in nicht abschliessender Weise in:
- Absolut zwingende Vorschriften: unabänderbar sowohl zulasten als auch zugunsten von Arbeitgebendem und Arbeitnehmendem (nicht abschliessende Auflistung in OR 361).
- Relativ zwingende Vorschriften: abänderbar zugunsten des Arbeitnehmenden (nicht abschliessende Auflistung in OR 362).
- Dispositive Vorschriften: abänderbar sowohl zulasten als auch zugunsten von Arbeitgebendem und Arbeitnehmendem.
2. Die Hierarchie der Vorschriften
Die arbeitsvertraglichen Rechtsquellen stehen grundsätzlich in folgender Rangfolge zueinander:
- Zwingendes Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsrecht, befristeter Normalarbeitsvertrag mit Mindestlohn (OR 360a)
- Zwingende (normative) Mindestarbeitsbedingungen des Gesamtarbeitsvertrags (Art. 257 sowie 360 Abs. 1 OR, Art. 38 Abs. 3 ArG)
- Betriebsordnung (Art. 360 Abs. 1 OR)
- Einzelarbeitsvertrag
- Dispositiver Normalarbeitsvertrag
- Dispositive Gesetzesbestimmungen
- Weisungen des Arbeitgebers (OR 321d)
3. Durchbrechung der Rangfolge durch das Günstigkeitsprinzip
Durch das Günstigkeitsprinzip erfährt die Rangfolge (vgl. Normenhierarchie) eine Abänderung, indem eine ranghöhere Regelung durch eine rangschwächere verdrängt wird bzw. letztere vorgeht, falls rangschwächere Regelungen für den Arbeitnehmenden günstiger sind (vgl. Art. 358 und 359 Abs. 3 OR). Die Beurteilung, welche Regelung für den Arbeitnehmenden günstiger ist, kann sich zuweilen als schwierig erweisen und bedarf einer Einzelfallbetrachtung.
Das Günstigkeitsprinzip gilt nur, wenn die ranghöhere Norm nicht absolut zwingend ist und auch nur im Verhältnis:
- Von Gesamt-, Einzel-, Normalarbeitsvertrag und Betriebsordnung zu einseitig zwingendem Verfassungs-, Gesetzes- bzw. Verordnungsrecht. In diesen Rechtsquellen können die gesetzlichen Vorschriften zugunsten des Arbeitnehmenden abgeändert werden (OR 362, ArG 38 Abs. 2).
- Vom Einzelarbeitsvertrag zu Gesamtarbeitsvertrag (OR 357 Abs. 2), wobei der GAV durch sog. Öffnungsklauseln sogar ein Abweichen zuungunsten des Arbeitnehmenden gestatten kann (Art. 357 Abs. 1 OR).
- Von Einzelarbeitsvertrag zu Betriebsordnung (Art. 357 Abs. 2 OR analog).
Keine Geltung hat das Günstigkeitsprinzip für:
- Dispositive Normen und Weisungen des AG
- Die Betriebsordnung im Verhältnis zum GAV
- Den dispositiven Normalarbeitsvertrag im Verhältnis: zum GAV (Art. 360 Abs. 1 OR), zur Betriebsordnung (Art. 360 Abs. 1 OR) und zum Einzelarbeitsvertrag.